Gräber und ein bisserl Ewigkeit


Zwischen Messe und Stille

An jenem Wochenende, als am südlichen Stadtrand Wiens die größte Fotomesse Österreichs stattfand, hatte ich vielleicht wider jede kaufmännische Vernunft einen Workshop am entgegengesetzten Ende der Stadt angesetzt. Die meisten Anbieter hätten wohl kaum daran gedacht, zur selben Zeit etwas Eigenes zu veranstalten. Zu groß die Gefahr, dass man als kleiner Veranstalter im Glanz des großen Spektakels gar nicht wahrgenommen wird.

Doch die Fotomesse hatte es schlicht nicht in meinen Kalender geschafft. Als ich den ersten Termin für „Endstation Zentralfriedhof“ Anfang für November festlegte, dachte ich nicht im Geringsten daran. Und das, obwohl ich zwischen 2008 und 2018 selbst immer wieder auf dieser Messe vertreten war, zuletzt mit einer kleinen Ausstellung meiner Fotografien.

So fiel mein stiller Fotoworkshop also just auf den zweiten Messetag. Wobei: Selbst ohne Messe wäre es keine Veranstaltung der Massen geworden. Mehr als vier Teilnehmer:innen waren ohnehin nicht vorgesehen, denn am Friedhof wäre jedes Gedränge fehl am Platz.


Ein leiser Spaziergang

„Endstation Zentralfriedhof“ ist als leises Unterfangen gedacht, ein Spaziergang mit Kamera in aller Ruhe. Schon in der Beschreibung steht ausdrücklich:

Achtung: Bei diesem Workshop am Zentralfriedhof geht es nicht um Tierfotografie. Ebenso wird großen Wert darauf gelegt, andere Friedhofsbesucher:innen in ihrem Gedenken an Verstorbene nicht zu stören. Eine Teilnahme ist nur dann sinnvoll, wenn man bereit ist, diese Rücksicht mitzutragen.

Damit scheiden freilich viele aus, die mit der Fotografie lieber auf die Jagd gehen – nach Rehen, Eichhörnchen oder sonstigem Getier. Dafür gibt es wahrlich passendere Orte. Der Zentralfriedhof ist kein Revier, sondern eine Art Zwischenwelt. Eine, die Ruhe verlangt. Wie zu erwarten, zog es wohl die meisten, die für „Endstation Zentralfriedhof“ infrage gekommen wären, an jenem Sonntag zur großen Messe in den Süden Wiens.

Aber eben nur fast alle. Einer war mit am Zentralfriedhof. E., ein Teilnehmer, der mir seit gut zehn Jahren immer wieder bei Workshops, beim Drucken seiner Bilder, in Gesprächen über das, was Fotografie sein kann, begegnet. Gemeinsam durchstreiften wir das weitläufige Gelände, teilten den Spaziergang in zwei Einheiten.

Zwischen Grabfeldern und steinernen Inschriften blieb Raum zum Reden, zum Schauen, zum Staunen über die alten Inschriften, wenn man stehenbleibt und hinsieht und man eben nicht nur auf der Suche nach einem "geilen" Motiv, mit dem man andere Beindrucken möchte ist.


Wetter

Das Wetter meinte es gut. Während der Pause zeigte sich kurz die Sonne, um sich dann, ganz novembergerecht, bald wieder hinter eine dichte Wolkendecke zu verziehen. Am Ende setzte leichter Regen ein, aber da hatten wir den Friedhof durch eines seiner Tore längst wieder in die hektische Welt verlassen.


Analoge Langsamkeit

Ich hatte mich an diesem Tag bewusst für das Analoge entschieden. Eine Pentacon Six mit 80-mm-Objektiv, dazu ein paar über zwanzig Jahre alte Rollfilme der längst verschwundenen Marke efke, produziert von der Fotokemika Zagre mit ISO 100. So, wie die Gräber im alten israelitischen Teil des Friedhofs in ihrem Zustand von der Zeit erzählen, so zeigten sich auch die Filme, die ich an diesem Tag verwendete – passend gealtert. Erst beim Entwickeln wurde deutlich, wie fragil und dünn diese alten Filme waren, man kann durchaus schon von spröde und brüchig sprechen.

Und doch sind daraus Aufnahmen entstanden, die trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Zerbrechlichkeit der Stimmung des Zentralfriedhofs gerecht werden. Eine Ausrüstung, die ihre eigene Langsamkeit mitbringt. Vielleicht genau das Richtige für einen Ort, an dem Zeit ohnehin anders vergeht.


Fotografie = Ruhe

So eine Kamera, noch dazu genutzt ohne externen Belichtungsmesser, nur mit der angepassten Interpretation der Sunny-16-Regel hat mir die nötige Ruhe beim Fotografieren am Zentralfriedhof vermittelt. Schauen. Entdecken. Den Ausschnitt vorstellen. Anschließend den Lichtschacht-Sucher aufklappen und prüfen, ob es passt. Zeit und Blende justieren. Auslösen. Mehr ist es eigentlich nicht.

Eine Kamera genutzt, um festzuhalten, was man glaubt zu sehen. Ganz ohne Gedanken an schwindende Akkus, Rauschverhalten, Pixelauflösung oder automatisch perfekt sitzenden Autofokus. Einfach Fotografie.


Ein kleiner Zufall

Interessant war auch ein kleiner Fund zwischen den Gräbern. Dass es eine sprachliche Verwandtschaft zwischen meinem Nachnamen Köppel und dem Namen Koppel gibt, wusste ich schon länger. Wer, wie ich, ein- oder zweimal im Jahr mit offenen Augen durch diesen Teil des Zentralfriedhofs streift, stößt irgendwann unweigerlich auf Grabsteine, die einen ähnlichen Namen tragen, ohne dass eine tatsächliche Verwandtschaft bestünde.

Bemerkenswert aber war der Zufall, dass eine Frau mit einem dieser verwandten Namen – (Jo)Hanna Koppel – just an jenem Tag im Kalender gestorben war, an dem ich 55 Jahre später geboren wurde. Und dass ich in meinem 55 Lebensjahr dann über genau dieses Grab gestolpert bin, das hat, wie man so sagt, schon ein gewisses Etwas.

PS: Ende November gibt es noch einen weiteren Termin für maximal vier Fotograf:Innen, die mit mir gemeinsam durch die Zeit am alten israelitischen Teil des Wiener Zentralfriedhof mit der Kamera streifen möchten! -> Infos dazu findet man hier



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