Bücherfund: Die Enzyklopädie der Fotopraxis / Blog
Kennt ihr Bücherzellen? Das sind ehemalige Telefonzellen, die ihren ursprünglichen Zweck als „Fernsprechapparat“ durch die Verbreitung von Smartphones verloren haben und nun als kleine, kostenlose öffentliche Bibliotheken dienen.
Eine solche Bücherzelle steht am Bahnhof in St. Valentin. Seitdem ich viel mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs bin, ist es zur Gewohnheit geworden, vor dem Zug ein kurzes Auge auf die Bücherzelle in der Bahnhofshalle zu werfen. Dabei ist es schon öfter passiert, dass ich das eine oder andere Buch mitgenommen habe.
Vor kurzem war es das Buch „Die Enzyklopädie der Fotopraxis“ von Michael Langford aus dem Weltbild Verlag, und zwar die Ausgabe von 1989. Wahrscheinlich würden die meisten heute kein 36 Jahre altes Buch über Fotografie und Fototechnik aus der Zeit vor der digitalen Revolution mitnehmen. Aber da ich eine Schwäche für alte Dinge habe, war es klar: Nachdem ich ein paar Seiten durchgeblättert hatte, musste dieses Buch mit.
Es ist ein bemerkenswertes Werk – nicht nur, weil es zahlreiche Fotografien und Abbildungen enthält, sondern auch, weil es eine enorme Vielfalt an fotografischen Themen behandelt. Die digitale Fotografie spielt dabei natürlich keine Rolle, was angesichts des Erscheinungsjahres verständlich ist.
Besonders interessant sind die Kapitel „Die Zukunft des Kamerabaus“ und „Stilrichtungen der Fotografie“. Auch wenn es sich um ein Buch aus einer anderen Zeit handelt, sind diese Abschnitte immer noch spannend zu lesen.
Im Kapitel über „Stilrichtungen der Fotografie“ wird beispielsweise über die Entwicklung einer eigenen fotografischen Handschrift gesprochen, also dem, was heute als persönlicher Stil bezeichnet wird. Es heißt dort:
„Ein ausgeprägter eigener Stil entwickelt sich, wenn der Fotograf neue Ideen, Meinungen und Interessen ohne Rücksicht auf positive oder negative Reaktionen des Publikums entwickelt. Die eigene Handschrift sollte sich aus einer eigenen Sehweise und dem entsprechenden Selbstvertrauen darauf entwickeln. Nach Ansicht des Fotografen Ralph Gibson braucht man 15 Jahre, um eine eigene Handschrift zu entwickeln...“
In diesen wenigen Zeilen steckt viel Stoff zum Nachdenken. Besonders wichtig erscheint mir der Gedanke, dass man „ohne Rücksicht auf positive oder negative Reaktionen des Publikums“ einen eigenen Stil entwickeln sollte. In der heutigen Zeit, in der Fotograf:innen ihre Werke oft über Social Media teilen, stellt sich die Frage: Postet man wirklich das, was einem persönlich wichtig ist, oder nur das, was viele „Likes“ und „Herzen“ bringt? Viele neigen dazu, sich in der Masse der gängigen Trends zu verlieren und weniger ihre eigene kreative Vision zu verfolgen.
Ein weiterer interessanter Punkt im Buch ist die Beobachtung, dass sich Fotograf:innen seit der Erfindung der Fotografie immer wieder in Gruppen zusammengefunden haben. 1989, als das Buch geschrieben wurde, war der Trend jedoch, zunehmend allein zu arbeiten und sich auf die eigenen Ziele und Ausdrucksmöglichkeiten zu konzentrieren. Fotoclubs, so heißt es, würden „eher das Durchschnittliche und das Übliche fördern“ und seien oft zu konservativ, um neue Ideen und Experimente zu unterstützen.
Diese Aussage hat mich besonders nachdenklich gestimmt, da ich selbst in einem Fotoclub bin. Oft habe ich festgestellt, dass die Bilder, die bei Wettbewerben gewinnen, technisch zwar perfekt sind, aber inhaltlich wenig Bedeutung haben. Die üblichen Verdächtigen gewinnen Jahr für Jahr, was die Messlatte für „gutes“ Fotomaterial festlegt und wenig Raum für neue, innovative Ideen lässt.
Das Buch widmet sich auch der „Bildanalyse und Bildkritik“. Es wird betont, dass Fotos eine ebenso gründliche Auseinandersetzung erfordern wie jede andere Kunstform. Leider geht diese Auseinandersetzung heutzutage oft verloren – besonders in den sozialen Medien, wo Fotos schnell mit „super“, „geiles Bild“ oder ähnlichen, meist leeren Kommentaren bedacht werden. Die Plattformen fördern keine tiefgehende Auseinandersetzung mit den Bildern. In Ausstellungen oder Fotobüchern, wo man sich mehr Zeit für die Betrachtung nehmen kann, kann man diese intensivere Reflexion erleben – wenn die Ausstellung nicht mit zu vielen Informationen überladen ist.
Ein weiterer wichtiger Punkt, der mir aufgefallen ist, ist das fehlende technische Wissen, das viele heute beim Betrachten von Fotos mitbringen. Es wird nicht immer erkannt, dass jedes Bild – sei es auf Social Media oder in einem Fotobuch – nicht nur aus der Kamera kommt, sondern auch durch kreativen Einsatz von Technik und Nachbearbeitung geformt wird. Das hat oft Frustration zur Folge, wenn Fotograf:innen nicht erkennen, dass diese Bearbeitung ein unverzichtbarer Bestandteil des kreativen Prozesses ist.
Ein besonders faszinierender Abschnitt im Kapitel „Die Zukunft des Kamerabaus“ beschäftigt sich mit den technischen Entwicklungen, die in der Fotografie zu erwarten sind. Schon 1989 wurde die Vision einer Kamera formuliert, die es ermöglicht, Bilder sofort zu beurteilen und – wenn nötig – zu löschen oder für spätere Vergrößerungen zu speichern. Diese Vision ist heute mit der digitalen Fotografie Realität. Allerdings bringt die digitale Technik auch ihre eigenen Herausforderungen mit sich, etwa den umweltschädlichen Abbau seltener Erden für digitale Kameras.
Abschließend kann ich nur sagen: Wenn euch dieses Buch irgendwann mal über den Weg läuft, nehmt es mit. Stellt es ins Regal und blättert es hin und wieder durch. Egal, ob ihr digital oder analog fotografiert oder wie lange ihr euch schon mit Fotografie beschäftigt – man kann immer etwas daraus lernen.
„Hast du eine Meinung, persönliche Erfahrungen oder einfach einen spannenden Gedanken zum obigen Thema? Dann freue ich mich sehr über eine Nachricht von dir – ich bin gespannt auf deine Sichtweise!“
Wenn Du mich in meiner freischaffenden fotografischen Tätigkeit und bei meinen Projekten (z.B. GRATIS-Print des Monats, vipBlog) unterstützen möchtest, so würde ich mich darüber sehr freuen.