Im dunklen Tunnel zwischen dem Nikolai-Steg und dem Ferdinand-Wolf Park fanden wir als Kinder einst fremde Ausweis-Papiere und eine Geldbörse. Im zugewachsenen, damals noch zugänglichen Stiegen-Aufgang, der heute nicht mehr existierenden Station „Hütteldorf-Bad“ hatte sich in unserer damaligen kindlichen Vorstellung ein Verbrechen zugetragen.
Von oben nach unten: Eingang Tunnel im Ferdinand-Wolf Park, Schienen der Westbahn, Nikolai-Brücke (Westausfahrt), Nikolai-Steg und darunter fliessender Wienfluss / Quelle: GoogleEarth
Über den Nikolai-Steg, den wir als Kinder immer als Nikolai-Brücke bezeichneten tollten wir oft durch den Tunnel in Richtung des heutigen Ferdinand-Wolf Park. Damals machten wir aus Unkenntnis darüber keine Unterscheidung zwischen dem Steg und der tatsächlich darüber laufenden, in den 1960iger Jahren errichten Nikolai-Brücke
Wienfluss und Aufgang zum Nikolai-Steg - 2023 © Herbert Koeppel - Kat. No.D20230920.100
Spielender Bub im Wienfluss - 2023 © Herbert Koeppel - Kat. No. D20230920.101
Als Bub muss ich den Wienfluss unzählige Male über diesen Steg überquert haben. Am rechten Ufer des Flusses gibt es heute noch, den aus metallenen und steinernen Treppen bestehenden Aufgang vom Flussbett zum Nikolai-Steg. Wenn ich heute unten an diesen Treppen stehe und diese Stiegen nach oben steige, so kommt mir mein erster Schritt immer wie ein Schritt durch die Zeit vor.
Sieht man von den Graffiti an den Wänden und von den mittlerweile fehlenden Sprossen in der unteren Treppe aus Metallstreben ab, so ist alles noch so wie vor gut vierzig Jahren. Jedenfalls müsste ich als Kind auch so einiges zu der Verformung dieser Stufen beigetragen haben, den diese Stufen habe ich in meiner Erinnerung unzählige Male benutzt.
Als ich diesen Sommer den kleinen Jungen im Wienfluss spielend von der obersten Stufe aus fotografierte, so war es für mich wieder ein Blick in die Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die sich hinter den zahlreichen Mäandern der Zeit verbringt. Eine Vergangenheit, die laut Albert Einstein immer noch dort hinter dem Schleier der Zeiten verborgen vorhanden ist. Eine Vergangenheit, die eine entsprechende Begabung vorausgesetzt auch wieder erreichbar ist. Zumindest wird das dem Hauptprotagonisten des Romans "Zeit Spuren" von Jack Finney so erzählt.
Am Nikolai-Steg mit Blick zur Nikolai-Brücke - 2023 © Herbert Koeppel - Kat. No.D20230920.102
Am Nikolai-Steg kurz vor dem Stiegenabgang zum Tunnel - 2023 © Herbert Koeppel - Kat. No. D20230920.103
Überquert man den Nikolai-Steg, so kommt man zu einem Tunnel, dem dieser Beitrag ja seinen Titel verdankt.
Dieser Tunnel hatte während meiner Kindheit eine wichtige Eigenschaft. Oberhalb dieses Tunnels befand sich in historischen Zeiten eine Station der k.u.k. Elisabeth Westbahn. Knappe sechs Kilometer nach dem damaligen Endbahnhof „Westbahnhof“ befand sich die Station „Hütteldorf-Bad“. Auf dieses Schwimmbad komme ich in einem anderem Betrag der Wienfluss.Erinnerungen demnächst auch noch zurück.
Blick aus dem Tunneleingang zurück zum Nikolai-Steg - 2023 © Herbert Koeppel - Kat. No.D20230920.104
Blick durch den Tunnel in Richtung Ferdinand Wolf Park - 2023 © Herbert Koeppel - Kat. No. D20230920.105
In den 1970/80iger Jahren war der Stiegen-Aufgang im Tunnel zu den Bahngeleisen noch zugänglich. Zwar war dieser sehr zugewachsen und verwildert, aber uns Kinder hatte das Gestrüpp nie gestört.
Heutige Eltern dürften mit ziemlicher Sicherheit einem Herzinfarkt nahe sein, wenn sie wüssten, dass ihre Kinder quasi freien Zugang zu Bahngeleisen hätten. Ob unsere Eltern damals darüber Bescheid wussten? Möglicherweise. Aber mit Sicherheit hätten wir uns an keine der elterlichen Verbote bei unseren Streifzügen am Wienfluss gehalten. So wahrscheinlich auch nicht an ein Verbot diese Stiegen-Auf/Abgänge nicht zum Spielen zu verwenden.
Irgendwann fanden wir dann etwas zwischen den Büschen und Brombeerstauden, die aus den zahlreichen Ritzen zwischen den Stiegen wuchsen. Jemand von uns fand eine Geldbörse und Ausweis-Papiere. Die Papiere gehörten einer Frau.
Sofort vermuteten wir im kindlichem Überschwang ein Verbrechen. Hier, zwischen dem Gestrüpp, am Stiegen-Aufgang der alten Bahnhaltestelle „Hütteldorf-Bad“ musste etwas geschehen sein. Wie sonst wäre eine Geldbörse und ein Ausweis im halbdunkel auf dem Stiegen im Strauchwerk zu finden gewesen.
Es ist unwahrscheinlich erstaunlich, wie schlecht man sich mit 52 Jahren an Erlebnisse aus der eigenen Kindheit mit Bestimmtheit erinnern kann. Jedenfalls glaube ich zu wissen, dass wir entweder alleine oder mit der Hilfe eines unserer Erwachsenen diese Fundstücke zur nächsten Polizei-Wachstube in Hütteldorf gebracht hatten.
Auch denke ich in Erinnerung zu haben, dass sich nach der Abgabe unseres vermeintlich grausigen Fundes im besagten Tunnel zwischen dem Nikolai-Steg und dem Ferdinand-Wolf Park Polizei eingefunden hat.
Ausgang des Tunnels im Ferdinand Wolf Park - 2023 © Herbert Koeppel - Kat. No. D20230920.106
Das die Polizei auch sich auch wirklich den Fundort näher angesehen hätte, dafür würde ich allerdings heute nicht mehr meine Hand ins Feuer legen.
Jedenfalls ist meine Erinnerung an die Ereignisse nach unserem Fund eher sehr trüb.
Den Tunnel haben wir, so denke ich in den Jahren danach jedenfalls immer sehr schnell und ohne uns viel darin aufzuhalten durchquert.
Wie erwähnt befand sich oberhalb des Tunnels in historischen Zeiten die Bahnstation "Hütteldorf-Bad" auf der Strecke von Wien nach Linz entlang der ehemaligen k.u.k. Elisabeth Westbahn.
Dieser nebenstehende Ausschnitt aus einer Fotografie aus dem Jahr 1935 zeigt neben den damaligen Nikolai-Steg auch die Wartehäuschen dieser Bahnstation.
Blick auf die Station "Hütteldorf-Bad" der Westbahnstrecke - Aufnahme von 1935
Winterlicher Blick aus dem Tunnel in Richtung Nikolai-Steg - 2005 © Herbert Koeppel - Kat. No. D800
Der Tunnel ist immer noch da.
Der Stiegenauf- und Abgang darin ist schon seit vielen Jahren zugemauert. Wann genau das gemacht wurde, liegt für mich im Dunkeln.
Als ich im Winter 2005 diese Aufnahme vom Tunnel aus in Richtung Nikolai-Steg machte, sind mir die Geschehnisse um unseren Fund sowie unsere Vermutung darüber, dass hier ein Verbrechen stattgefunden hatte wieder in Erinnerungen gekommen.
Beim Verfassen diesen Beitrages stellte ich eine Anfrage an die Wiener Polizei zu diesem Thema. Sofern dabei etwas herauskommt, werde ich meine darüber in einem Nachtrag am Ende dieses Beitrages berichten. Es wird sich dann eventuell herausstellen, wieviel dieser einen Kindheitserinnerung auch tatsächlich passiert war.
NACHTRAG
Nun, die Wiener Polizei hat sich doch tatsächlich auf meine Anfrage hin zurückgemeldet. Allerdings ist dabei nicht viel herausgekommen. Langer Rede kurzer Sinn, aufgrund der "Skartierungsvorschriften" sind keine Aufzeichnungen mehr vorhanden. Eine "Skartierung" ist auf gut deutsch nichts anderes als eine Aktenvernichtung. Dabei bezeichnet man im Archivwesen die Vernichtung von nicht als archivwürdig erachteten Unterlagen.
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Kommentar zu "Der Tunnel (2005, 2023 und 1935)"
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