Irgendwann 1999 hatte es mich nach längerer Zeit wieder an den Abenteuerspiel-Platz meiner Kindheit verschlagen - an den Wienfluss. Warum und wieso es mir damals wieder in Sinn gekommen war, dort mal wieder vorbeizuschauen kann ich heute nicht mehr nachvollziehen. Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich die Fotografie schon einige Zeit lang für mich entdeckt, allerdings stand ich damit gerade erst am Anfang.
An diesem Tag allerdings dürfte ich ohne Kamera unterwegs gewesen sein. Jedenfalls finden sich keine Aufnahmen dieses Tages im eigenen Bildarchiv. Trotzdem gibt es von diesem Wiedersehen mit dem Wienfluss Fotografien. Mein mittlerweile verstorbener Onkel Heinrich Tauscher hatte seine Kamera dabei, als er, ein Freund und ich an diesem Tag am Wienfluss unterwegs waren.
Wehrbauwerk der Rückhaltebecken, 1900 (Aufnahme), CC0, Inventarnummer HMW 49049/7/2 / Quelle: Wien Museum
Fast wie damals
Ewas mehr als 70 Jahre nachdem die obige Fotografie gemacht wurde, sah es bis auf die Gebäude und die historischen Leitungen im hintern Teil des Bildes, in den Sommern meiner Kindheit hier nicht so viel anders aus. Damals waren die Bauwerke und das steinerne Bett des Wienflusses, dessen Regulierungsarbeiten gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihren Anfang genommen hatten, in etwa 100 Jahre alt. Während dieser Zeit war viel Wasser die Wien in Richtung Donaukanal geflossen.
Zahlreiche größere und kleinere Hochwässer wurden durch die vor dem ersten Weltkrieg errichteten Hochwasserschutzmassnahmen seitdem im Zaum gehalten. Durch die Regulierung des Wienflusses hatten die Hochwässer entlang der Wien ihre Schrecken und deren Zerstörungspotenzial verloren. Der Wienfluss war also schon lange vor meiner Kindheit gezähmt worden und seit gut einem Jahrhundert in ein Bett aus Stein und Beton gezwängt.
Als mein Onkel an diesem Tag Aufnahmen machte waren bereits wieder umfangreiche Bau- und Umgestaltungsarbeiten im Gange.
Wehrbauwerk am Ende der Rückhaltebecken.1999 (Aufnahme Dr. Heinrich Tauscher), © Herbert Koeppel - Kat. No. H1999.1
Blick vom Turm des Endwerks, flussabwärts Richtung Nikolai-Steg und Nikolai-Brücke (Westausfahrt).1999 (Aufnahme Dr. Heinrich Tauscher) © Herbert Koeppel - Kat. No. H1999.4
Hier war früher alles in Stein und Beton gefasst, daher sah diese "neue" Landschaft für mich an diesem Tag sehr ungewöhnlich aus. Das ehemals schmale Bachbett meiner Kindertage war verschwunden.
Graureiher 2023 © Herbert Koeppel - Kat. No. D20230910.9
Der Beginn der Wienfluss Regulierung liegt mehr als hundert Jahre in der Vergangenheit. Während dieser Zeit hatten sich die am damaligen Wienfluss lebenden Tiere mit Sicherheit ruhigere Gefilde gesucht.
Auch bei extremen Hochwasser ist der Wienfluss seit dem Abschluss der Regulierungsarbeiten in seinem Bett aus Stein und Beton geblieben. Viele der damals errichteten Bauwerke und Mauern sind heute noch vorhanden und sichtbar. So auch der Stiegenabgang entlang der damals errichteten Mauer im Hintergrund dieser Fotografie.
Wer weiß, wer weiß! Es könnte gut sein, dass dieser spezielle Graureiher am langen Weg durch die Geschichte und Zeit, mit denjenigen verwandt ist, die sich nach den fast zwanzig Jahre andauernden Regulierungsarbeiten, vor über hundert Jahren am Wienfluss wieder angesiedelt haben.
Auch wenn er nicht in Verwandtschaft mit den damaligen Graureihern steht, so wäre es dennoch ein schöner Gedanke.
Massnahmen für die Zukunft
Seit der Regulierung der Wien zeigte der Wienfluss bei Starkregen oder bei Schneeschmelze den WienerInnen zu welchen Wassermengen er fähig ist.
Blick vom Nikolai-Steg bei Hochwasser, flussaufwärts zum Wehrbauwerk am Ende der Rückhaltebecken. 2002 © Herbert Koeppel - Kat. No. D2002.1
Allerdings alles im Rahmen der Einfassung des Flusses zwischen Purkersdorf/Mariabrunn und der Einmüdung in den Donaukanal. Bei manchen dieser Ereignisse kam der Hochwasserstand zwar der damaligen Stadtbahn-Linie, bzw. der heutige Linie U4 gefährlich nahe, aber zum katastrophalen und folgenschweren Überschwappen des Hochwassers in den Schienenbereich ist es allerdings meines Wissens nach nie gekommen.
Trotzdem war es notwendig geworden, die Überläufe der Rückhaltebecken am Wienfluss nach gut hundert Jahren Betrieb zu modernisieren. Die Stadt Wien hatte einige Jahre zuvor mit diesen Arbeiten begonnen. Dabei wurde auch mit der teilweisen Re-Naturierung des Wienflusses/Mauerbaches begonnen.
Diese Dinge führten dazu, dass ich an diesem Tag auf eine völlig veränderte und im Umbau begriffene Wienflusslandschaft sah. Der Wienfluss, so wie er ausgesehen hatte als ich ein Kind war, existierte nun nicht mehr. Das alte betonierte Flussbett aus meinen Kindertagen war nun in eine zerklüftete, wieder von Menschenhand künstlich geschaffene Flusslandschaft umgestaltet worden.
Mit etwas Phantasie konnte man sich 1999 bereits gut vorstellen, wie sehr sich hier die Natur aus zweiter Hand bald ausbreiten würde.
Renaturierter Wienfluss, Blick vom Nikolai-Steg, flussaufwärts Richtung Wehrbauwerk am Ende der Rückhaltebecken. 2023 © Herbert Koeppel - Kat. No. D20230815
Natur aus zweiter Hand
Doch auch der heutige Wienfluss ist eine besondere Landschaft.
Wienfluss/Mauerbach, flussaufwärts gesehen, Höhe Lindheimgasse, 1140 Wien. 2023 © Herbert Koeppel - Kat. No. D20230809
Es ist kaum zu glauben, dass die renaturierte Flusslandschaft ihren Anfang erst Ende der 1990iger Jahre genommen hat. An manchen Stellen bekommt man fast den Eindruck, dass sich die Flusslandschaft nun wieder zu einer ähnlichen, wie sie vor den Regulierungsarbeiten Ende des 19. Jahrhunderts ausgesehen haben mag, entwickelt.
Fotografische Zeitreise(n)
Vor 25 Jahren ahnte ich es noch nicht, dass der Wienfluss in den kommenden Jahrzehnten immer wieder fotografisches Motiv für mich sein würde
Weg auf der Mauerkrone mit Geländer, flussaufwärts gesehen, kurz nach dem Turm des Wehrbauwerk am Ende der Rückhaltebecken.1999 (Aufnahme Dr. Heinrich Tauscher) - © Herbert Koeppel - Kat. No. H1999.6
Das jeder weitere Besuch für mich zu einer Art Zeitreise ohne Zeitmaschine wird. Eine Zeitreise, die allein dadurch stattfindet, dass ich mich wieder einige Stunden an Orten aus meinen Kinder/Jugendtagen aufhalte. Meine Besuche am Wienfluss sind eine Art driften durch die Zeit.
Momente der Kindheit
In anderen Augenblicken erlebe ich mich als Kind, das bis in die späten 1980iger Jahre hier ganz besondere Momente der Kindheit und auch als Jugendlicher erlebt hatte.
Sicht in ein Rückhaltebecken mit Blick auf die Trennmauer zum vorherigen Becken.1999 (Aufnahme Dr. Heinrich Tauscher) © Herbert Koeppel - Kat. No. H1999.7
Die eigene Vergangenheit am Wienfluss wird bei jedem meiner Besuche wieder für mich lebendig. An manchen Stellen findet sich noch fast alles so wie es früher war. So wie der obige Weg, der entlang aller Hochwasser-Rückhaltebecken vom Endwerk bis zum Sperrwerk bei Mariabunn führt.
Wollten wir als Kinder/Jugendliche unbehelligt von Erwachsenen vorwärts kommen, so nahmen wir immer den Weg entlang der Mauerkrone.
Dabei führte uns der Weg oft in eines der Hochwasser-Rückhaltebecken. Dort trieben wir als Kinder natürlich allerlei Unfug beim Räuber- und Gendarmspielen oder beim Versuch die Trennwände zwischen den Rückhaltebecken zu überwinden. Die modernen, meist geöffneten Hochwasserschleusen, wie es sie seit Ende der 1990iger Jahre gibt, gab es damals ja noch nicht.
War man erstmal in einem der Rückhaltebecken, so war man ausser Sicht-, Hör- und Rufweite eines jeden Erwachsenen. In einem dieser Rückhaltebecken war es auch, wo ich mich auf schüchterne Art und Weise einem gleichaltrigen Mädchen mit einem unbeholfenem Kuss näherte.
Spuren der Vergangenheit
Andere Plätze und Orte haben sich komplett verändert und trotzdem finden sich hier und da noch Spuren aus der Vergangenheit.
Einer der letzten Reste…2020 © Herbert Koeppel - Kat. No. D20200530.1
Einer der letzten Reste…mit Treppe zum Wienfluss - 2020 © Herbert Koeppel - Kat. No. D20200530.2
Gab es in meiner Kindheit noch eine Kleingarten-Siedlung zwischen der Lindheimgasse und der heutigen Schnellbahnstation "Wolf in der Au", so gibt es heute nur mehr ein oder zwei Reste der Garten-Tore, über die so mancher dieser Kleingarten-Besitzer bequem über eine Treppe zur Abkühlung in den Wienfluss steigen konnte.
Beton und Stein
Aus der heutigen Sicht eines Erwachsenen war der Spielplatz meiner Sommer als Kind eigentlich eine Stein- und Betonwüste. Heute entwickelt sich der Wienfluss bereits an vielen Stellen zum Naherholungsgebiet für die Bewohner der umliegenden Wiener Bezirke. Eine Entwicklung, die gut und auch in Anbetracht der heutigen klimatischen Veränderungen notwendig ist.
Blick auf den Wienfluss wie in Kindertagen, flussabwärts kurz unterhalb des Nikolai-Stegs. 2003 © Herbert Koeppel - Kat. No. D20030727.1
Kinder, die heute bereits erwachsen sind, hatten 2001 den Wienfluss für sich an diesem Tag entdeckt. Kurz oberhalb des Nikolai-Stegs, flussabwärts gesehen. - 2001 © Herbert Koeppel - Kat. No. D20010902.1
Nicht nur Fauna und Flora, sondern auch Menschen kehren wieder an den Wienfluss zurück. Eine erfreuliche Entwicklung wenn man bedenkt, welch wichtige Rolle so ein Ort gerade für heranwachsende Kinder- und Jugendliche sein kann, wenn ich dabei an meine eigene damalige Zeit am Wienfluss zurückdenke.
Den Wienfluss zu revitalisieren ist für die Stadt Wien kein vollkommen neues Projekt. Zahlreiche politische Akteure haben sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder damit beschäftigt. Obwohl viel darüber geredet und diskutiert wurde in dieser Zeit, ist auch tatsächlich am Wienfluss etwas geschehen. Ist man mit dem Fahrrad von Hitzing nach Aufhof unterwegs, zeigt sich ab Hütteldorf eindeutig der Erholungswert, den ein renaturierter Wienfluss für die Bevölkerung haben kann.
Bei meinem letzten Besuch hat sich auch gezeigt, dass die Bevölkerung teilweise den Wienfluss auch wieder zum Baden nutzt. Als Wienfluss-Zeitreisender hat mich das ganz besonders gefreut, denn im Sommer im Wasser der Wien unterwegs gewesen zu sein, gehört mitunter zu den schönsten Erinnerungen aus meinen Kindertagen.
Als Kind gab es bereits am Wienfluss immer viel zu entdecken. Aus dem Entdecken ist nun eine Wiederentdeckung bei mir geworden. Die Freude am (Wieder)-Entdecken am Wienfluss hat sich seit meiner Kindheit nicht im geringsten verändert.
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Kommentar zu "Zurück am Abenteuerspielplatz meiner Kindheit (1999)"
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