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Ist hier frei? (PP02)

Eine kleine, harmlose Frage und doch ein gesellschaftliches Minenfeld. Wer regelmäßig mit einem der vielen Proletenschläuche unterwegs ist, kennt sie. Jene Verkehrsmittel, in denen sich die Massenbewegung des Volkes mit dem stillen Drama der Sitzplatzsuche verbindet. Denn wo keine Reservierung gilt, regiert das Prinzip „Sitzplatzbesetzung“

Dass die Frage überhaupt gestellt werden muss, liegt am modernen Reiseverhalten: Der Sitzplatz als Territorium, der Nebenplatz als Kolonie. Kaum jemand lässt ihn unverteidigt. Taschen, Rucksäcke, Einkaufstüten alle nehmen selbstverständlich Platz. Man weiß nie, ob der Sitz nur vorübergehend von einem Gepäckstück „besetzt“ ist oder ob sein eigentlicher Nutzer gerade den Kaffeeautomaten belagert, im Speisewagen in der Schlange steht oder schlicht dem Ruf der Natur folgt.

Im Nahverkehr ist das absurd: Kein Platz ist reserviert und doch ist oft kaum einer frei obwohl eigentlich jeder zweite Sitz doch „frei“ ist.

Ein Freitagmorgen auf der S1 Richtung Linz. Ein Waggon halbvoll und trotzdem liegen Dinge, wo eigentlich Menschen sitzen sollten. Man fragt sich: Ist das Bequemlichkeit oder nur die stille Gewissheit, dass sich ohnehin keiner traut zu fragen? Denn die meisten Fahrgäste, so scheint’s, ziehen es vor zu stehen, statt das soziale Risiko der drei Worte einzugehen: Ist. Hier. Frei.

An der Haltestelle Ebelsberg stieg ein Paar mit großen Koffern ein. Einer davon wurde ohne Zögern auf die gegenüberliegenden Sitze gelegt. Eine Frau hinter ihnen, offenbar von der seltenen Spezies der Zivilcouragierten, sagte laut und deutlich: „Ich würde gerne sitzen! Könnten Sie den Koffer bitte wegnehmen?“

Noch ehe die Szene sich weiterentwicklen kann, rückte ich auf meiner Seite des Waggons einen Platz zur Seite. Die Frau nahm dann neben mir Platz, bedankte sich und fragte freundlich, ob sie den Tisch ausklappen dürfe, sie wolle etwas schreiben. Und dann schrieb sie. Still, konzentriert, als würde sie diese kleine Reise zwischen Asten und Linz ebenfalls protokollieren.

Als der Zug in Linz einrollte, blieb ich sitzen. Erfahrungsgemäß bringt es nichts, sich frühzeitig in den Ausgangstrichter zu stürzen. Meine Sitznachbarin stand auf, fragte höflich, ob sie den Tisch wieder einklappen solle. Ich zuckte die Schultern, sie lächelte: „Sonst könnten Sie ja gar nicht aussteigen.“ Es war eine jener überflüssig netten Gesten, die einem den Glauben an den Anstand kurz zurückgeben.

Das Paar mit den Koffern beobachtete das Ganze, irritiert. Einmal Zivilcourage und soviel Höflichkeit innerhalb einer Zugfahrt von drei Stationen für sie offenbar etwas Neues. Sie schüttelten den Kopf, als säßen sie einer Versuchsanordnung des guten Benehmens bei.

Dabei ist das alles ganz einfach! Ein Gepäckstück ist kein Fahrgast. Ein Sitzplatz ist zum Sitzen da und Rücksichtnahme sollte kein Kuriosum sein. Wer fragt, ob ein Platz frei ist stört nicht, sondern möchte ganz einfach nur sitzen.

Genau betrachtet ist der öffentliche Nahverkehr, nichts anderes als ein rollender Test unserer Umgangsformen und allzu oft fällt das Ergebnis sehr ernüchternd aus.





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